„Zweierlei Heimaten“ – Start des Jubiläumsjahrs
Bundesaußenminister Steinmeier eröffnete das deutsch-israelische Jubiläumsjahr mit einer Lese- und Gesprächsreihe. Als erste Gäste diskutierten Schriftsteller Meir Shalev und Regisseur Edgar Reitz über Heimat und Identität.
Zwei große Erzähler, die Geschichte in Geschichten verwandeln - der eine mit der Kamera, der andere mit Worten: Der deutsche Filmemacher Edgar Reitz und der israelische Schriftsteller Meir Shalev diskutierten am 15. Januar 2015 mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier über „Zweierlei Heimaten“. Der Abend im Weltsaal des Auswärtigen Amts in Berlin bildete den Auftakt einer deutsch-israelischen Lese- und Gesprächsreihe und markierte zugleich den Beginn des Jubiläumsjahrs zum fünfzigjährigen Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Mit einer Vielzahl von Veranstaltungen in Deutschland und Israel wird 2015 an die Geschichte dieser besonderen Beziehungen erinnert.
„Beide Länder lassen sich nicht denken ohne die Narben einer schrecklichen Geschichte, die uns verbindet, ohne die Barbarei Nazideutschlands, ohne das unermessliche Verbrechen der Shoa, ohne die verlorene und die neu gefundene Heimat derjenigen, die nur überlebt haben, weil sie Deutschland verlassen haben“, sagte Bundesaußenminister Steinmeier in seiner Ansprache vor den mehreren hundert geladenen Gästen. Deutschland und Israel seien heute „Teil einer gemeinsamen Heimat westlicher Demokratien“, die eine Partnerschaft verbinde, deren Dichte und Tiefe vor fünf Jahrzehnten sich niemand auch nur annähernd habe vorstellen können. Auch der Botschafter des Staates Israel in Deutschland, Yacov-David Hadas-Handelsman, betonte, die deutsch-israelischen Beziehungen hätten „aus der dunkelsten Hölle der Geschichte“ eine fast unglaubliche Entwicklung genommen. Sie seien aber auch ein Beweis des Willens des jüdischen Volkes, seine Zukunft selbst zu bestimmen. Von der Gesprächsreihe erhoffe er sich aufschlussreiche Einblicke in den Alltag und das Leben beider Länder und lebendigen Austausch.
Was ist Heimat?
Zum Thema des ersten Abends der vom Auswärtigen Amt gemeinsam mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD konzipierten Lese- und Gesprächsreihe „Zweierlei Heimaten“ hätten die Panelisten nicht besser ausgesucht werden können: In den Romanen des im Jahr der israelischen Staatsgründung 1948 geborenen Meir Shalev sind Krieg, Identität, Heimat und Verlust von Heimat immer wiederkehrende Motive, „Themen“, so Steinmeier, „die geradezu sinnbildlich auch für den Ausgangspunkt der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel stehen“. Auch Edgar Reitz, der 1932 geborene Regisseur der mehr als sechs Jahrzehnte deutscher Geschichte umfassenden Trilogie „Heimat - Eine deutsche Chronik“, hat sich intensiv mit dem Begriff auseinandergesetzt. Wie Shalev das Thema künstlerisch umsetzt, zeigte eine Lesung der Schauspielerin Corinna Kirchhoff aus dem Roman „Der Junge und die Taube“ von 2007. Alle Erzählstränge der poetischen Liebesgeschichte laufen vor dem Hintergrund des Kampfs um Jerusalem 1948 auf die Frage nach dem Zuhause zusammen. Eine Filmsequenz aus Reitz‘ erster „Heimat“-Folge zeigte die Heimkehr des Protagonisten Paul Simon aus dem Ersten Weltkrieg.
Offene Gesellschaft als geistige Heimat
Die TV-Journalistin und frühere Israel-Korrespondentin Astrid Frohloff moderierte die Diskussionsrunde, in der die Gesprächspartner zu ergründen versuchten, wie sie den Heimatbegriff verstehen, ob es einen Konsens darüber gibt, was Heimat ist, und wie der Begriff in Deutschland und Israel verstanden wird. Für ihn sei Heimat einfach „der Ort, an dem ich sein möchte, den man nicht wirklich verlassen will“, sagte Shalev. Steinmeier betonte, dass der geografische Begriff von Heimat in der globalisierten Welt eher verloren gehe, er Heimat in der deutschen Sprache empfinde und in einem Kulturraum, in dem er sich auskenne. Reitz erzählte, wie er sich dem Begriff auf der Suche nach den eigenen Wurzeln genähert habe, weil er die Geschichte seiner Herkunft erzählten wollte: „Doch je mehr ich es tat, desto weiter entfernte sich der Begriff von mir.“ Das deutsche Wort Heimat sei schillernd und wecke viele Assoziationen, verallgemeinerbar sei es aber nicht: „Das Gegenteil von Heimat ist sicher der Begriff der Nation, dieses abstrakte Gebilde. Dass wir in der Nation Heimat finden, glaube ich nicht. Heimat, wenn es sie sie gibt, das sind die Geschichten, die wir erzählen“. Dem stimmte Shalev zu: Gerade wenn man kein physisches Zuhause habe, seien der Text, die Geschichte und die Geschichten Heimat: „Das Hebräische ist meine zweite Heimat, die ich immer mit mir nehme, wohin ich auch gehe“. Reitz erweiterte die Diskussion noch um einen Aspekt, der gerade im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in Paris in der Vorwoche, neues Gewicht bekommt: „Es gibt auch so etwas wie eine geistige Heimat – was wir unter Freiheit verstehen, der gesellschaftliche Konsens, der unsere künstlerische Arbeit erst ermöglicht“. Eine offene Gesellschaft biete eine geistige Heimat, die nichts mehr mit Nationalität zu tun habe.
Die Zukunft im Blick
„Wie sollten wir unsere Heimat mitgestalten mit Blick auf die deutsch-israelischen Beziehungen?“, fragte Moderatorin Frohloff zum Abschluss. Shalev antwortete mit einer Geschichte: Seine Mutter habe, immer wenn sie nach Hause kam, zuerst ihr Haus begrüßt: „Shalom, beit“ – „Hallo, Haus“. Sie sei sicher gewesen, „wenn man es richtig sagt, wird das Haus antworten“. Reitz gefiel das Bild: „So lange die Tür eines Hauses offen ist, ist es Heimat. Dies könnte uns inspirieren.“ Dass viele junge Israelis den Weg nach Deutschland suchten und junge Deutsche in Israel Freundschaften schlössen, stimme ihn zuversichtlich, sagte Bundesaußenminister Steinmeier: „Wir werden die deutsch-israelischen Beziehungen nicht nur im Rückblick betrachten, sie werden auch eine gute Zukunft haben.“
Musikalisch umrahmt wurde der Abend von einem Ensemble des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, das zwei Stücke der jüdischen Komponisten Erich Wolfgang Korngold und Felix Mendelssohn-Bartholdy vortrug. Beim anschließenden Empfang hatten die Gäste aus Gesellschaft, Politik und Kultur Gelegenheit, sich mit den Panelisten noch intensiver zum Thema Heimat und den deutsch-israelischen Beziehungen auszutauschen.
Link zur Rede von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier
Link zur Rede von Botschafter Yacov Hadas-Handelsman
DW-Interview mit Bundesaußenminister Steinmeier zu 50 Jahren deutsch-israelischen Beziehungen