Aus der Zukunft geschrieben
Bei den Deutsch-Israelischen Literaturtagen 2015 fragen sich zehn Schriftsteller, wie die Nachwelt über das Jahr 2015 denken wird.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen meiner Texte auf Hebräisch hören werde“, sagt Sherko Fatah. Verstanden habe er allerdings kein Wort, fügt er grinsend hinzu. Der Berliner Autor ist einer von zehn Schriftstellern, die sich mit der Frage „Wie wird man unsere Zeit im Jahr 2065 bewerten?“ auseinandergesetzt haben. Herausgekommen sind zehn Texte, die – in Auszügen – Anfang November während der deutsch-israelischen Literaturtage von den Autoren und Übersetzern in einer hippen Tel Aviver Buchhandlung vorgelesen wurden.
Im Frühsommer 2015 hatten das Goethe-Institut und die Heinrich-Böll-Stiftung fünf deutsche und fünf israelische Schriftsteller und Schriftstellerinnen beauftragt, Prosatexte zum Thema der Rückschau auf heute aus der Perspektive des Jahres 2065 zu schreiben. Inhaltlich sind die Texte so unterschiedlich wie die Biografien der einzelnen Autoren. Sherko Fatah beispielsweise, der 2015 mit dem Großen Kunstpreis Berlin ausgezeichnet wurde, beschäftigt sich literarisch stets mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen im kurdischen Grenzgebiet zwischen dem Iran, Irak und der Türkei. Fatah hat ein fiktives Interview mit einem Professor im Jahr 2065 geführt. „Um das Jahr 2015 erreichte die massenhafte Flucht von einerseits Kriegsflüchtlingen aus dem Mittleren Osten und andererseits Afrikanern über das Mittelmeer einen ersten Höhepunkt. Das Mittelmeer wurde zur natürlichen Grenze, und es wurde eine neue Art von Europäer erfunden, jene neue Bürgergattung, die wir bis heute ‚Transiteuropäer‘ nennen.“
Die deutsche Schriftstellerin Tanja Dückers beschreibt in ihrer Geschichte die Welt aus der Sicht ihrer eigenen Enkeltochter. „Damals, vor fünfzig Jahren“, heißt es darin, „war überall vom Neuen Feminismus die Rede. Wie alle wissen, wurde Hillary Clinton die erste Präsidentin der USA.“ Ein halbes Jahrhundert später sind in Dückersʼ Zukunftsvision Frauen in der Arbeitswelt nicht mehr vorgesehen. Um die obligatorischen fünf Kinder produzieren zu können, und damit die 80-prozentige Steuerstrafe bei Verfehlung des Ziels zu umgehen, müssen Frauen gut genährt und gesund sein. Das ist so zeitaufwendig, dass die Frauenquote abgeschafft und die Mutterquote eingeführt wurde. Immerhin gibt es einen positiven Nebeneffekt in Dückersʼ Zukunftsgeschichte: Das Krankheitsbild Magersucht gibt es nicht mehr.
Der israelische Autor Ron Segal, der mit Unterbrechungen seit 2009 in Berlin lebt, hat eine Art Reisetagebuch geschrieben. Segal vermengt in „Reise nach Jerusalem“ die zwei Welten seines Großvaters Eleasar. „Eleasars Achsen sind ihm untreu geworden. Sie lassen ihn unkontrolliert und ungezügelt in alle Richtungen flattern, wie bunte Bänder am Drahtkäfig eines auf Hochtouren laufenden Ventilators. Er niest in Berlin und hört ‚Gesundheit!‘ in Jerusalem; überquert eine Straße in West-Jerusalem und wird um ein Haar von einer Straßenbahn in Ost-Berlin totgefahren.“ Ron Segals Text hat eine unweigerliche Komik: „Das war ungeheuer lästig im Winter, wenn er in Berlin in einer hauchdünnen Windjacke erschien oder in einem deutschen Parka in einer Jerusalemer Hitzewelle schmorte. Ja, Eleasar wechselte mit derselben Leichtigkeit zwischen Jerusalem und Berlin hin und her, mit der er die Kanäle mit der Fernbedienung wechselte, aber er war nicht der, der zappte.“
Ruth Achlama, die Übersetzerin der „Reise nach Jerusalem“ ins Deutsche, sitzt an diesem Abend im Publikum. Sie ist gleich doppelt vertreten, da sie auch Maya Arads Beitrag übersetzt hat. Arad gehört zu Israels gefeierten jungen Autoren. Ihre Hauptthemen sind Migration und Israelis in Amerika – sie selbst lebt seit 2002 in Kalifornien. Für die deutsch-israelischen Literaturtage hat Arad eine Kurzgeschichte über das Leben als Schriftstellerin in den Jahren 2015 und 2065 geschrieben: 2015 begreift sie, dass ihr kein Weg als gefeierter Buchautorin mehr bevorsteht. So fängt sie an, im Internet zu publizieren. Fünfzig Jahre später, zu ihrem 100. Geburtstag, schenkt ihre Familie ihr ein Buch mit ihren Geschichten. Die alte Dame ist sprachlos vor Glück, unvermutet hält sie ihr Lebenswerk gedruckt und nicht auf dem iPad in zittrigen Händen. „Die Buchstaben vor ihr verschwimmen. Man kann sie nicht durch leichte Berührung vergrößern oder den Bildschirm heller stellen Der Name der Verfasserin: Rawit Goren, ihr eigenes Pseudonym. Der Titel ‚Ein eigenes Buch‘.“
Die weiteren Teilnehmer der deutsch-israelischen Literaturtage 2015 waren Charlotte Kerner, Thomas von Steinaecker, Roman Ehrlich, Yiftach Ashkenazi und Orly Castel-Bloom.